January 27, 2008 3:50 PM

Gedenken

Die letzten 1 1/2 Tage habe ich in einem kleinen Kurort an der Nordsee verbracht, in dem sich, seit ich das letzte Mal vor mindestens 10 Jahren dort gewesen bin, rein garnichts verändert hat. Den Weg durch die Stadt finde ich auch heute noch mit geschossenen Augen.
Soweit ich weiß, ist die Stadt während des Zweiten Weltkrieg weitestgehend von Bombadierungen verschont geblieben, sodaß man immer noch einen guten Eindruck davon bekommt, wie die Stadt zu ihrer Blütezeit Anfang des 20. Jahrhunderts aussah - Von den Kur- und Badehäusern und kleinen Hotels, Pavillons und Tanz-Lokalen bis zu den verhältnismäßig großen Hafengebäuden, Fischhallen und Arbeiter-Wohnblöcken aus der Zwanziger Jahren.
Natürlich findet man dort auch einen Haufen Reihenhäuser und Quarees mit Wohnblöcken aus den 70ern, sowie die üblichen ekelerregenden Bausünden aus den 90ern, mit denen man weitgehend erfolgreich versucht hat, die schönsten Ansichten zu verschandeln. In dem zu dieser Jahreszeit erwartungsgemäß menschenleeren Seebad herrscht nicht die geringste Form von "Wildwuchs": Fast nirgendwo sieht man abblätternde Farbe oder Grafitti. Man fühlt sich wie in einem Heimatfilm aus der guten alten Zeit, glaubt, jederzeit könnte Freddy Quinn singend und Gitarre spielend um die Ecke laufen. Eine ähnliche Sicht auf die Welt durch eine handkolorierte Postkarte scheint auch die Person, wegen der ich die Reise dort hin angetreten habe, zu besitzen: Mein bezeichnenderweise 88 Jahre alter Großvater.
Spätestens 1949 muß für ihn die Zeit stehengeblieben sein. Ich kann nur spekulieren, aber ich vermute, daß, wer als Kind lernt, "Völker, eßt die Banane..." zu singen und heute stolz berichtet, schon mit 11 beim Jungvolk gewesen zu sein, mit einem abrupten Systemwandel von einer totalitären Terrorherrschaft, von Indoktrination, Krieg, Gefangenschaft zu einer Demokratie nicht verstanden hat. So lange ich mich zurück erinnern kann, höte ich von ihm immer die selben Geschichten aus seiner Kindheit und Jugend vom Schollen und Dorsche angeln, Schwimmen im längst geschlossenen Freibad.
Diese, wie auch allerlei Seemannsgarn (von ewig aufquellenden Graupen usf.) und Berichte der beiden großen Sturmfluten, hörte ich mir besonders als Kind immer wieder gern an.
Zu diesem Zeitpunkt machte mir es auch noch nichts aus, erzählt zu bekommen, wie er und seine "Kammeraden" in Frankreich Cognacfässer aus dem Keller gerollt haben. Auch die exakte Auslegung der Verteidigungsanlagen während des Krieges, mit Flaks, Kanonen und Haubitzen war für mich als 6- oder 7-Jährigen ein faszinierendes Thema.. Ich denke jedoch, der vergangene Samstag war der letzte Tag, an dem ich mir Sätze wie "Wenn wir den Krieg gewonnen hätten..." oder "...dann sind wir alle marschiert und haben 'S**g, H**l!' geschrien.." anghört habe.
Ich ertrage das nicht mehr und ich kann nicht mehr vergeblich dagegen anreden. Er wollte mich ein letztes Mal sehen: So sei es.

Author: nille | Permalink | Category: thoughts, me, myself & i