November 20, 2016 9:51

Press A to make excuses

Danke, Indiecade Europe! Für Branchenvertreter mag Indiecade ein Netzwerktreffen, eine Weiterbildungsmöglichkeit oder Gelegenheit zur Akquise sein… Ich habe das Festival einfach nur zum Anlass genommen, an einem Freitag einmal die Arbeit Arbeit sein zu lassen und stattdessen in den Zug nach Paris zu steigen, um dort einen Tag lang nach Herzenslust Videospiele zu spielen.

Auf den ersten Blick mögen die Begriffe Videospiele und Festival gegenläufig erscheinen, denn, seien wir ehrlich: in vielen Fällen bedeutet „Videospiele spielen“, besondere Erlebnisse zu vermeiden und der Realität zu entfliehen, wie jeder attestieren kann, der stunden- oder tagelang Pokemon, Tetris oder Civ gespielt hat. Auf einem Musikfestival wollen wir dagegen Neues, Unbekanntes, Überraschendes erleben. Wir warten darauf, dass unsere Lieblingsband einen unveröffentlichten Song oder die B-Seite einer Single spielen, wir nachher sagen können: „Da hättest du dabei sein müssen“. Gut, es gibt auch Menschen, die Fettes Brot hören, aber das ist ein anderes Thema.

Dieses Kriterium hat Indiecade vollends erfüllt, und sei es auch nur, weil viele junge Entwickler vor Ort waren, die eine Förderung erhalten oder noch studieren und sich so dem Markt entziehen können. Den ausgestellten Spielen merkte man durchweg an, dass sie nicht unter dem Druck, sich in den Steam-Charts behaupten zu müssen, entstanden sind. Neben typischen Titeln, die man auf einem solchen Festival vermutet – Local-Multiplayer-Spiele à la „Chalo Chalo“, ein echt langsames Singlescreen-Rennspiel mit strategischen Elementen und zufallsgeneriertem Spielfeld – wurden auch Spiele gezeigt, die sich erfrischend experimentierfreudig bei Ein- und Ausgabe geben, wie beispielsweise „Line Wobbler“, ein eindimensionaler Dungeoncrawler, der mit einem gummiartig federnden Joystick gesteuert und auf einem langen Band von Leuchtdioden dargestellt wird.

Auch ein gutes Dutzend VR-Spiele haben zum außergewöhnlichen Charakter der Veranstaltung beigetragen, auch dank Sponsoring eines Hardwareherstellers. Dennoch war es schön, zu sehen, dass dieser Raum derzeit noch von Indie-Entwicklern dominiert wird, die ihn für krude, experimentelle Spiele nutzen. Einige Titel erinnern an die 8- und 16-Bit-Ära, in der Gamedesign oft synonym mir technischer Entwicklung war: In „Fugl“ beispielsweise besteht die Interaktion mit dem Spiel fast ausschließlich darin, ein Vogelwesen durch eine zufällig generierte, sich ständig verändernde Landschaft zu dirigieren, und „Ascent Spirit“ simuliert das Steilwandklettern an einem verschneiten Berg, ohne dabei mit Cut Scenes oder einer Story aufzuhalten. Ginge es nach mir, könnte die VR-Entwicklung auch genau so weiter verlaufen, schließlich dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis Ubisoft die erste „Assassin's Creed‘-Episode für VR-Brillen veröffentlicht.

Neben Rumhängen, Spielen und Smalltalk mit Designern und Entwicklern bot Indiecade Europe, abseits von Workshops für Fachbesucher, auch Laien Impulse zum Nachdenken: Beispielhaft dafür ist Petro Righi Rivas Vorstellung seines Rejecta-Manifests. Zugegeben, bei mir, als Fan von Filmen wie „Ladri di biciclette“ und „Bitterer Reis“, hat er mit der Idee, analog zum italienischen Neorealismus, eine Gegenbewegung zu gefestigten Genre-Konventionen zu schaffen, offene Türen eingerannt… Gerade wollte ich dazu schreiben, man müsse ja nicht unbedingt Fan von Aussagen wie „Genregames abschaffen!“ oder „Fick Environmental Storytelling!“ sein, aber, und das lehrt eigentlich die Erfahrung, um nachhaltige Veränderung herbeizuführen und festgefahrene Strukturen aufzurütteln, was ja im Interesse aller Fortschrittsinteressierten sein sollte, bedarf es einer gewissen Radikalität. Und Rivas Forderung, von Menschen geprägte Darbietungen in den Vordergrund zu stellen und die Human Condition zum Grundthema von Videospielen zu machen, erscheint mir in Zeiten, in denen praktisch die gesamte Branche von reaktionärer Entmenschlichung dominiert wird und die meisten Alternativen dazu harmlos, ohne einen Gegenpunkt zu setzen, daher kommen, genau richtig.


Author: nille | Permalink | Category: games